Donnerstag, 22. Januar 2009

Vorwort zu A. Solschenizyn "Ein Tag..."

Dies ist auszugsweise das Vorwort zu A. Solschenizyn "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch"; dtv Taschenbuch 751; 6. Auflage; München 1972; S.6 (ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich diese meine Bildungslücke jetzt erst schließe, obwohl selbstverständlich auch ich damals schon von dieser Erzählung hörte):

Diese Erzählung enthält keine vorsätzliche Verdichtung der furchtbaren Fakten von Grausamkeit und Willkür, die eine Folge der Verletzung der sowjetischen Gesetzlichkeit waren. Der Autor wählte einen der gewöhnlichsten Tage des Lager­lebens vom Wecken bis zum Zapfenstreich zum Thema. Gleich­wohl muß dieser eine »gewöhnliche« Tag im Herzen des Lesers Bitterkeit und Schmerz über das Schicksal von Menschen aus­lösen, die in der Erzählung als lebendig und nahe vor ihm ste­hen. Der zweifellose Erfolg des Künstlers aber ist darin zu sehen, daß diese Bitternis und dieser Schmerz nichts mit dem Gefühl eines hoffnungslosen Geknechtetseins gemein haben. Im Gegenteil, dieses Werk, das durch eine derart ungewöhnli­che, ungeschminkte und schwierige Wahrheit beeindruckt, befreit gleichsam die Seele von der Unaussprechlichkeit dessen, was gesagt werden muß, und festigt gleichzeitig in ihr den Mut und edle Gefühle.

Diese harte Erzählung ist ein weiteres Beispiel dafür, daß es keine Sphären oder Erscheinungen der Wirklichkeit gibt, die in unserer heutigen Zeit aus dem Schaffensbereich des sowjeti­schen Künstlers ausgeklammert oder einer wahrheitsgetreuen Darstellung nicht zugänglich wären. Alles hängt davon ab, über welche Möglichkeiten der Künstler selber verfügt.

Und diese Erzählung läßt noch eine weitere einfache und lehr­reiche Schlußfolgerung zu: Ein wirklich wesentlicher Inhalt, die Glaubwürdigkeit einer großen Lebenswahrheit, die tiefe Menschlichkeit beim Herangehen an die Darstellung selbst der schwierigsten Themen muß auch eine entsprechende Form her­vorbringen. Sie ist hier gerade in ihrer Alltagsdiktion und äuße­ren Schlichtheit prägnant und eigenständig. Sie kümmert sich am allerwenigsten um sich selber und ist deshalb voll inneren Wertes und innerer Kraft.

Ich möchte mit meiner Begeisterung für dieses dem Umfang nach kleine Werk dem Urteil des Lesers nicht vorgreifen, ob­wohl es für mich außer Zweifel steht, daß es einem neuen, eigenwilligen und durchaus reifen Meister Eingang in unsere Literatur verschafft.

Alexander Twardowskij
Chefredakteur der Zeitschrift >Nowyj mir<

Zwei Dinge beeindrucken mich an dieser Einführung besonders:
1. Sie trifft ziemlich genau auch einen Kern meiner Gedanken, die ich Euch nahebringen wollte, und die wir in den letzten Wochen hier diskutierten und hoffentlich auch noch weiter tun (um diesen Gedanken noch einmal mit meinen Worten und erheblich weniger wertneutral auszudrücken: es nützt uns nix, wenn wir uns das Blaue vom Himmel runterlügen wollen oder lassen. Auch schreckliche Wahrheiten finden ihren Weg ans Licht. Leider aber umso schrecklicher, je länger sie dafür brauchen)

2. Für mich kommt hier eine Weisheit zum Ausdruck, die wir in unserer angeblich so gedankenfreiheitlichen westlichen Welt für mich erkennbar noch nicht gefunden haben. Jedenfalls habe ich sie - außer in jüngster Zeit, vlt. weil hier bei uns immer mehr unsere Unfreiheit deutlich wird? - bei und von uns noch nicht erfahren.

a) Habe ich also vielleicht doch Recht, wenn ich behaupte, dass unsere vielgerühmte Freiheit nicht unsere sondern nur genauso wenigen eigen ist, wie auch in Zeiten der Sowjetunion es dort "freie" Menschen gab? Wenn ja: Wofür kämpfen wir dann hier? Für die Freiheit der wenigen anderen?

b) Geht es uns immer noch zu gut? Vergessen wir darum so viel Ursprüngliches, was in einem "unfreien" Regime noch zum Alltagswissen gehörte?

c) Wollen wir uns nur deswegen autosuggestiv versichern, dankbar und bewundernd Werbefehrnsehen uns reinzieh'n, wie wunderschön unsere heile (Doko-)Welt ist, weil wir sonst unsere Ausweglosigkeit, unser Verlierertum erkennen müßten? Und Sieger sein ja so viel schöner ist? Warum nicht lieber selbst treten als getreten zu werden?

Euer Jo
der trotz dieser Fragen uns unseren Spaß wünscht und auch dankbar froh darüber ist, ihn mit Euch hier (noch?) zu finden. Dieses noch hängt einzig allein von uns ab - davon, wie sehr wir nicht blind sein wollen und zu welcher sehenden Kreativität wir uns aufraffen können!

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